Sonntag, 13. Juli 2008
 
Wenn die Jugendämter zu mächtig werden
Häufig wird über die Untätigkeit der Behörden geklagt – aber Hunderte Eltern fordern vom Europaparlament Hilfe gegen Willkürentscheidungen
Süddeutsche Zeitung 05.05.2008
Cornelia Bolesch

400 solcher Briefe hat David Lowe, der britische Generalsekretär des Petitionsausschusses, bislang gezählt. Sie zeichnen ein Bild, wie man es in Deutschland kaum kennt. Hier geraten die Jugendämter immer wieder in die Kritik, weil sie überfordert wirken und manchmal nicht verhindern, dass Eltern ihre Kinder bis zum Tode misshandeln. In den Briefen nach Brüssel aber klagen Väter und Mütter über das Gegenteil: über ein allmächtiges Amt, das sich brutal zwischen sie und ihre Kinder dränge. Der Ausschuss hat ein Problem: „Die Unterschiedlichkeit der Fälle, ihr emotionaler Gehalt bereiten uns Schwierigkeiten, eine eindeutige Empfehlung vorzubereiten", schrieb der polnische Ausschussvorsitzende, Marcin Libicki, vor wenigen Wochen an Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU).

Lesen Sie die vollständige Nachricht hier.

Und hier die offizielle Position der Bundesregierung:
Als der Europaabgeordnete Andreas Schwab (CDU) von der Bundesregierung wissen will, ob die vielen Beschwerden nicht doch ein strukturelles Problem der Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland offenbarten, antwortet der parlamentarische Staatssekretär im Familienministerium, Hermann Kues, es handle sich nur um „Einzelfälle". ... Wozu der Staatssekretär in seiner Antwort vom April jedoch nicht Stellung nimmt, sind die Klagen von deutschen Eltern, denen das Jugendamt die Kinder weggenommen hat.

Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Handlungen der Jugendämter nicht um Einzelfälle handelt, sondern um systembedingte Fehler. Dem Presseblog liegen Schreiben der zuständigen Ministerien und des Deutschen Bundestages vor, nach denen nicht beabsichtigt ist, diese Fehler abzustellen.

Doch selbst wenn wir mit Herrn Kues annehmen, Hunderte von Willkürhandlungen deutscher Jugendämter seien nur eine Anhäufung bedauerlicher Einzelfälle, dann ist das noch immer keine Rechtfertigung für die Untätigkeit der zuständigen Stellen. Prof. Anne Peters hat in ihrem Aufsatz "Wie wichtig ist Straßburg" unmissverständlich klargestellt, dass die Feststellung von Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention alle staatlichen Stellen verpflichtet, diese Verstöße umgehend abzustellen.

Der Fall Marco Weiß war mit Sicherheit ein Einzelfall. Er lag noch nicht einmal im Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung. Dennoch haben sich mehrere Regierungsvertreter und Mitglieder des Deutschen Bundestags vehement für Marco Weiß eingesetzt. Einige von Ihnen sprachen der Türkei sogar die Eignung als EU-Beitrittsland ab.

Was aber passiert in den Fällen (Plural!) der Familien, die von deutschen Jugendämtern zerstört wurden?

Nichts? Weit gefehlt!

In diesen Fällen kommt das ALI-Prinzip zur Anwendung: Abwimmeln, Leugnen, Ignorieren.

Dem Presseblog liegt ein Schreiben der hessischen Sozialministerin vor, nach dem das Verhalten des Jugendamtes des Rheingau-Taunus-Kreises keinen Anlass zu Beanstandungen gebe. Dieses Jugendamt hat seit Jahren wiederholt gegen Gesetze verstoßen, sich in mindestens vier Fällen über rechtskräftige Gerichtsbeschlüsse hinweggesetzt, gerichtliche Ermahnungen missachtet und psychologische Gutachten einfach ignoriert. In einem besonders krassen Fall hat es hinter dem Rücken des gesetzlichen Richters mit Hilfe eines nicht zuständigen anderen Richters unumkehrbare Sachzwänge geschaffen. Die Folgen aus diesem Verhalten waren und sind dramatisch.

Das OLG Frankfurt hat festgestellt, dass wiederholte Kindesentziehung und Umgangsvereitelung ausreichend nachgewiesen sind. Wer dennoch behauptet, dies alles gebe keinen Anlass zu Beanstandungen, hat sich entweder mit dem Fall nicht beschäftigt oder bringt seine bedenkliche Einstellung zu Recht und Gesetz zum Ausdruck. Die Häufung derartiger Vorkommnisse und die darin erkennbare Systematik zeichnen ein irritierendes Bild des deutschen Rechtsstaates. Wen nimmt es wunder, dass die Betroffenen nunmehr Hilfe bei der Europäischen Union suchen?

... comment