Sonntag, 21. November 2010
 
Im Jugendamt sitzt der Peiniger von einst
Wer in der DDR im Kinderheim lebte, leidet oft noch heute. Erst jetzt haben einige den Mut, über die Zeit des Schreckens zu reden.
FAZ.net 19.11.2010
Claus Peter Müller

Etwa zwei Drittel der Opfer beziehen eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Erfahrungen der Kindheit und Jugend haben sie traumatisiert. Silke Birgitta Gahleitner, Sachverständige am Runden Tisch Heimerziehung, sagt, ein Trauma rühre aus einem Diskrepanzerlebnis her, in dem eine Bedrohung und die Möglichkeit, sie zu bewältigen, weit auseinander klaffen. Der Mensch versuche zunächst, einer solchen Situation zu entfliehen. Gelinge das nicht, kämpfe er. Sei ihm auch das verwehrt, gefriere er. Auf englisch lautet die Alliteration des Schreckens: Flight, Fight, Freeze.

Das Einfrieren sei am gefährlichsten, sagt Gahleitner. Es könne zur Amnesie, zu somatischen Leiden oder Fehlgeburten führen. Immer wieder kämen die Opfer in „Trigger-Situationen“, die das alte Gefühl der Ohnmacht auslösen. Wenn jemand seine Akten einsehen will und auf den Jugendämtern jene antrifft, die er als Peiniger in Erinnerung hat. Wenn der Heimleiter von einst noch heute im Jugendamt sitzt. Wenn Behörden und Justiz aus Akten des Unrechtsstaates zitieren.

Lesen Sie die vollständige Nachricht hier.

Ein interessanter und wichtiger Artikel, der allerdings unter einem kleinen Etikettenschwindel leidet: Kinder sind sich nicht bewusst, in welchem politischen System sie leben. Misshandlungen und erniedrigende Behandlung sind traumatische Erlebnisse, und zwar unabhängig davon, ob ein kapitalistischer oder ein sozialistischer Rohrstock verwendet wird.

Und so lesen wir denn auch:

Das System der DDR-Heimerziehung hat Parallelen zu den Verhältnissen in den Heimen der frühen Jahre der Bundesrepublik. Die gemeinsame Wurzel sieht Manfred Kappeler, ebenfalls Sachverständiger am Runden Tisch Heimerziehung, in den Jahren bis 1945. Kappeler, der das System der Heimerziehung im Westen als „postfaschistisches System“ sieht, sagt, ihm sei nach dem Mauerfall klar geworden, „wie ähnlich die Heimerziehung in der BRD und der DDR doch waren“.

Kappeler schließt mit einer humoristischen Note:
"Im Westen freilich konnten Kritiker die Missstände offen anprangern."

Er hätte besser vorher mit Betroffenen gesprochen.

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