Samstag, 27. Oktober 2007
 
Irrationales Recht
ZAP-Sonderheft zu, 75. Geburtstag von Dr. Egon Schneider, 2002, S. 52
Dr. Ekkehart Reinelt, Anwalt am Bundesgerichtshof

Es ist nicht zu verkennen: Das deutsche Zivilrecht unterliegt einer zunehmenden Irrationalisierung. Beiträge hierzu liefern Gesetzgebung und Rechtsprechung. Wo Menschen zu Werke gehen, werden auch Fehler gemacht. Irren ist menschlich. Fehler muß man deshalb nicht nur dem Gesetzgeber, sondern insbesondere auch Richtern konzedieren. Es gibt aber Fehler, deren Ursachen auf grundlegend falsche Weichenstellungen zurückzuführen sind. Die Überflutung mit Generalklauseln und unbestimmten Formulierungen bedingt eine Erweiterung der Befugnisse des Richters bei der Anwendung gesetzlicher Bestimmungen. Diese Erweiterung der richterlichen Befugnisse und die Aufgabe rational nachvollziehbarer Methodik sind Ursachen für Fehlentwicklungen, die die irrationalen Elemente im Recht und in der Rechtsanwendung verstärken. ERNST WOLF spricht gar in diesem Zusammenhang von einer "Krise des Rechtsstaats".

Lesen Sie den vollständigen Aufsatz hier.

Ein erschütternder Aufsatz. Auch wenn die Beispiele in Abschnitt III. am Themenbereich des Presseblogs vorbeigehen, sollte man sich die Zeit nehmen, den ganzen Aufsatz zu lesen.

Eine der Kernthesen lautet:

"Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz nach Art. 20 GG ist von der Rechtsprechung unter der Ägide des Bundesverfassungsgerichts schon seit Jahrzehnten aufgegeben worden. Das BVerfG vertritt dazu die Auffassung, daß die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz abgewandelt sei. Der Richter sei nach dem Grundgesetz nicht darauf angewiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Er könne sich der "Aufgabe der Fortbildung des Rechts" nicht entziehen (BVerfGE 34, 286). Diese über das Prinzip der Gewaltenteilung und die Grenzen des Art. 20 GG hinausgehende Freifahrkarte, die das BVerfG der Rechtsprechung ausstellt, führt nicht nur zur ständigen Schöpfung neuer rechtlicher Vorschriften durch die Rechtsprechung, dabei beispielsweise auch zu solchen, die noch nicht gelten, aber nach der Rechtsprechung des BVerfG erst nach bestimmten Zeitläufen in Kraft treten sollen, ebenso wie manche Vorschriften verfassungswidrig sein, jedoch vorerst befristetet weiter gelten sollen, sondern auch dazu, daß die Bindung an bestehende gesetzliche Vorschriften beliebig beiseite geschoben wird. Das BVerfG hat sich zum Supergesetzgeber aufgeschwungen und stellt den Richter über das Gesetz. Diesem Vorbild folgen nicht nur die Obersten Bundesgerichte, sondern zwischenzeitlich auch häufig die unteren Instanzen ..."

Das ist das Ende der Gewaltenteilung. Richter entwickeln im Rahmen ihrer Urteile neue Normen und wenden sie sofort auf den konkreten Fall an. Der Gesetzgeber wird überflüssig. Da die neuen Normen erst im Rahmen der Urteile bzw. Beschlüsse aufgestellt werden, weiß niemand mehr, nach welchen Kriterien eigentlich entschieden wird. Rechtssicherheit ade!

Der ausführlichen Analyse der Misere unseres Rechtswesens ist nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass sich das Tempo der Entwicklung seit 2002 eher erhöht hat.

Darf künftig freitags in Einbahnstraßen noch geraucht werden, oder wird das im Rahmen der richterlichen Fortentwicklung der StVO mit einstweiliger Erschießung bestraft?


Mehr zum Thema siehe hier.

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